Unter meinen augenblicklichen Schülern gibt es eine siebte Klasse, die nervenaufreibend unaufmerksam ist – es sind einfach zu viele „Quasselstrippen“ drin, um sie alle einzeln oder ganz nach vorne zu setzen. Die ersten Wochen und Monate des Schuljahres waren zäh. Es war ein Ringen um Macht, um Ruhe, um Aufmerksamkeit von beiden Seiten, das mich schier wahnsinnig machte – ich kam kaum noch zum Unterrichten, weil ich ständig nur mit Störungsbeseitigung beschäftigt war. Und ich hatte es auch einfach nicht mehr so drauf nach sechs Jahren Pause. Ich schwankte zwischen den verschiedensten Handlungsstrategien hin und her und bot sicher kein besonders zielstrebiges Bild.
Kurz vor Weihnachten, ich war gerade 14 Tage krank gewesen, eskalierte die Situation. Ich konnte mich nicht mehr durchsetzen, flippte aus und stand nur noch lächerlicher da.
Also musste eine Lösung her. Ich überlegte, was ich brauchen würde, um wieder gerne in dieser Klasse zu unterrichten:
- Störungen zu beseitigen durfte nicht mehr in ewige Diskussionen oder ständiges Anschreiben von Leuten ausarten, das lenkte mich und die Schüler zu sehr ab. Ich brauchte ein „Tool“, das mich und mein Hirn entlastete, das mir half, mir zu merken, wer störte, ohne groß abzulenken und den Fluss zu unterbrechen.
- Ich wollte unbedingt mehr Augenmerk auf die aufmerksamen, mitarbeitenden Schüler legen. Die kamen in diesem Grabenkampf nämlich komplett zu kurz!
- Ich wollte aufhören, nur mit Strafen um mich zu werfen, sondern die belohnen, die mitmachten.
- Die Konsequenzen aus stetiger Unaufmerksamkeit konnten nicht weiterhin im Abschreiben sinnloser Seiten, Auswendiglernen irgendwelcher Gedichte o.ä. bestehen. Worum es letztendlich wirklich geht: Dass der durch die Unaufmerksamkeit versäumte Stoff nachgeholt werden soll.
Daraus entstand in einer eher schlaflosen Nacht in meinem Kopf ein Konzept, das im Prinzip wie die Bonuskarte am Dönerstand funktioniert:
Jeder Schüler bekam eine Karte im A 5 Format ausgehändigt, auf der sich auf der grünen Vorderseite Platz für den Namen und Felder für Stempel befinden, auf der gelben Rückseite stehen die Regeln zum Nachlesen. Und die lauten folgendermaßen:
- Ich lege zu Beginn jeder Stunde meine Bonuskarte mit der GRÜNEN Seite nach oben auf den Tisch vor mich.
- Werde ich von Frau Blume ermahnt, weil ich gestört habe oder unaufmerksam war, muss ich die Karte SOFORT auf GELB umdrehen.
- Bei einer weiteren Ermahnung nimmt Frau Blume meine Karte an sich, was „ROTE KARTE“ bedeutet. In der Folgestunde bekomme ich die Karte wieder, falls ich ein Stundenprotokoll vorweisen kann.
- KONSEQUENZEN:
- Wenn ich am Ende der Std. GRÜN habe, darf ich das Datum eintragen und vorne einen Stempel abholen
- Bei gesammelten 9 Stempeln bekomme ich einen HA-Gutschein. 🙂
- Wenn ich GELB habe, bekomme ich keinen Stempel, aber auch keine Strafe
- Wenn ich ROT habe, muss ich alles, was in der heutigen Stunde besprochen und gelernt wurde, in einem ausführlichen Stundenprotokoll aufschreiben und in der Folgestunde unaufgefordert abgeben. (So kann ich nachholen, was ich durch Unaufmerksamkeit versäumt habe)
- Wenn ich trotz ROT noch weiter störe, bekomme ich einen Verweis!
- Wenn ich beim Betrugsversuch erwischt werde (von Gelb wieder auf Grün drehen etc.) bekomme ich sofort einen Verweis!
Wie bei einer Bonuskarte am Dönerstand ist der „Kunde“ selber dafür verantwortlich, sich den Stempel auch abzuholen. Ebenso werden keine Stempel nachgereicht, d.h. wer die Karte nicht dabei hat, kann auch nicht stempeln. Zur besseren Durchführbarkeit habe ich immer Ersatzkarten für Vergesser dabei (die aber nur anzeigen, ob man gestört hat, Stempel gibts darauf natürlich nicht!). Wer gerade keine Karte hat, weil er ein Stundenprotokoll nicht rechtzeitig abgegeben hat, kann natürlich ebenso keine Stempel sammeln.
Dieses System habe ich jetzt seit Weihnachten, also seit knapp sieben Wochen am Laufen. Und es hat sich wirklich bewährt! Vorteile? Massig:
Seitdem gehe ich mit dem guten Gefühl aus der Klasse, dass ich gerade 15 Schülern einen Stempel gegeben habe, und nicht mehr mit miesen Gedanken an die vier notorischen Störenfriede, die mal wieder ein Protokoll schreiben müssen….
Ich lächle meine Stempelabholer an und wir wechseln ein paar Worte. Seit Januar haben wir überhaupt mal eine Beziehung zueinander aufbauen können – bis dato hatte ich ja fast immer nur mit den Störern geredet.
Wenn jemand quasselt, stört, nicht aufpasst, nenne ich nur kurz seinen Namen und deute mit der flachen Hand eine Umdrehbewegung an, dann dreht drejenige seine Karte selbständig auf auf Gelb. Und sieht deutlich vor sich, dass er nun besonders auf der Hut sein muss.
Stört jemand wiederholt, gehe ich kurz am Platz vorbei und nehme die Karte mit. Der Name des Störers steht ja drauf. 😉 Die Karte gibt es wieder zurück, sobald mir der Schüler in der kommenden Stunde unaufgefordert das Protokoll aushändigt.
Ist es insgesamt zu laut, muss ich eigentlich nur andeuten, dass ich jetzt wohl gleich mal ein paar Karten umdrehen werde, dann wird es fast augenblicklich still. 😀
Ich kann mich endlich wieder aufs Unterrichten konzentrieren, es gibt richtige Gespräche, in denen sich gegenseitig zugehört wird, Stillarbeit ist wenigstens halbwegs wirklich auch Stillarbeit.
Es wird nicht gemauschelt oder diskutiert, die Schüler akzeptieren meine Anweisungen absolut und noch nie hat einer versucht, sich einen Stempel zu erschleichen, auch wenn ich immer mal wieder im Spaß gefragt werde, wo ich denn meine Stempel (wohlweislich uralte, billige Dinger!) gekauft hätte. 😉
Wir haben nun auch mal Zeit für ein Schwätzchen und hetzen nicht immer nur dem Stoff hinterher.
Und das Schönste: Allen macht’s mehr Spaß!
Dass dem wirklich so ist, bekam ich heute quasi bestätigt. Die Schüler erzählten mir nämlich, dass sie heute mit ihrem Klassenlehrer über Schwierigkeiten mit ihren Lehrern gesprochen hätten, und „Sie und Herr M. waren die einzigen, an denen wir nichts zu kritisieren hatten“. 😀
Unglaublich, vor acht Wochen hätte das wohl sicher noch anders ausgesehen…. Das freut mich sehr!